Eltern kennen das Problem: Beruf, Kinder, Partnerschaft, Ehrenamt und Zeit für sich selbst sind nicht einfach unter einen Hut zu bringen. Um immer das Beste zu geben, zerreißt man sich bis zur totalen Erschöpfung – und trotzdem plagt einen noch das schlechte Gewissen, weil die Zeit nie ausreicht. Aber es gibt eine Möglichkeit, diesem Hamsterrad zu entkommen.
Felicitas Richter, Diplom-Sozialpädagogin, Katholische Religionslehrerin, Autorin, Referentin und als vierfache Mutter Expertin rund um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, hat eine Methode entwickelt, die Eltern helfen soll, durch Präsenz besser durch den Alltag zu kommen. So einfach ihre Tipps erscheinen, so einfach nennt sich ihre Methode: simple present!
Liebe Frau Richter, ist es wirklich so einfach, all die Anforderungen, die uns Arbeit und Familie nun mal abverlangen, zur Zufriedenheit aller zu meistern?
Nein! Alle Anforderungen, Bedürfnisse, Erwartungen von Kindern und Partner, Chef und Kollegen, Schule und Gesellschaft zur Zufriedenheit aller zu erfüllen, ist in meinen Augen gar nicht möglich. Das zu erkennen ist eine ernüchternde, aber auch befreiende Botschaft. Trotzdem versuchen wir Eltern es im täglichen Spagat. In unserem Kopf tragen wir eine lange To-do-Liste mit uns herum, dazu kommt der Druck, im Beruf erfolgreich, in der Familie glücklich und gesellschaftlich engagiert zu sein. Am Ende fühlen wir uns gehetzt und gestresst. Indem wir versuchen, alles gleichzeitig unter einen Hut zu bringen, vergessen wir am Ende, selbst unter diesem Hut zu sein.
Welche ist die Kernbotschaft der „simple present“-Methode?
„Simple present“ ist die englische Zeitform für die „einfache Gegenwart“. Ich höre bei Eltern oft die Hoffnung, dass es „irgendwann besser wird“. Das macht mich traurig, denn ich wünsche ihnen, dass sie diese intensive, anstrengende, lebendige Familienzeit nicht nur heil überstehen, sondern bewusst erleben und sogar Kraft aus ihr ziehen können.
„Simple present“ ist eigentlich keine Methode. Was ich den Eltern an die Hand gebe sind Werkzeuge, eine wache, präsente Haltung zu entwickeln, die hilft, auch in einem turbulenten und manchmal stressigen Alltag Gelassenheit und innere Ruhe zu bewahren. Wenn das gelingt, passt alles gut zueinander: Freude an den Kindern, eine erfüllte Partnerschaft, Verwirklichung im Beruf, die eigene Weiterentwicklung und sogar ehrenamtliches Engagement.
Kinder brauchen keine Eltern, die alle Anforderungen meistern. Sie brauchen Eltern, die ihnen zeigen, wie man erfüllt und zufrieden leben kann. Meine Mutter hat früher immer gesagt: „Wenn es den Kindern gut geht, geht es der Mutter gut.“ Seit ich selbst Mutter bin, weiß ich, dass es stimmt. Aber genauso wichtig ist: „Geht es Mutter und Vater gut, geht es den Kindern gut.“ Das ist die Kernbotschaft.
Aber bleibt zwischen Beruf, Familie, Ehrenamt überhaupt noch Platz für einen selbst bzw. für die persönlichen Bedürfnisse?
Diesen Platz müssen wir uns selbst in unserem Leben ganz bewusst einräumen. Das nimmt uns leider niemand ab. Aber eigentlich ist das gar nicht so schwer. Ich vergleiche all die Termine, Aufgaben und Anforderungen, die wir Eltern meistern, gern mit einem Hurrikan, der um uns herum tost. Am ruhigsten ist es in seiner Mitte. Und genau dort gehören wir hin – in unsere Mitte, unabhängig von der momentanen Windstärke in unserem Leben. Das gelingt uns zunächst durch bewusste Momente der Achtsamkeit für uns selbst und unsere Bedürfnisse. Oft sind wir in Gedanken schon einen Schritt weiter und verpassen viele Augenblicke, die uns Kraft geben können. Also: Wenn Sie duschen, dann duschen Sie (und arbeiten nicht schon die To-do-Liste für den Tag ab). Wenn Sie Ihren Kaffee trinken, dann genießen Sie das Aroma und atmen Sie kurz durch (und schreiben nicht nebenbei schon drei Mails). Wenn Sie bei der Arbeit sind, dann dürfen Sie genießen, ungestört etwas zu Ende zu bringen. Das klingt banal, aber diese Momente verbinden uns mit dem, was uns guttut. Meine Kinder sind ja schon größer. Was ich heute ehrlich bedauere ist, dass ich mir nicht mehr Zeit genommen habe, ihnen zuzuschauen – beim Spielen im Sandkasten, beim Schlafen, im Gespräch. Kinder zeigen uns ständig das Überraschende, Schöne, Aufregende im Leben. Wir müssen nur hinschauen.
Natürlich brauchen wir auch Zeitfenster, in denen wir für uns sind und ungestört das tun können, was uns wichtig ist. Das kann eine Viertelstunde sein, in der wir zwischen Arbeitsort und Kita noch einen Spaziergang durch den Park machen, mit einer Freundin telefonieren oder durch das Drogerie-Sortiment stöbern. Es sollte aber auch ein Abend in der Woche sein, der ganz mir gehört, und einer, der ganz dem Partner gehört. Ebenso wichtig ist das Paar-Wochenende, der Besuch einer Buchmesse oder die Woche Pilgern. All das müssen wir langfristig einplanen. Am Ende des Tages bleibt keine freie Zeit übrig. Diesen Terminen für sich selbst Priorität einzuräumen ist nicht leicht. Aber es lohnt sind. Denn anschließend können wir mit neuer Kraft unseren Alltag meistern.
Sie empfehlen, nach selbst gesetzten Prioritäten zu handeln. Aber wie verhält man sich, wenn einen gerade in diesem Moment die Kinder ganz dringend brauchen, der Chef gleichzeitig Überstunden verlangt und der Partner mal wieder nicht erreichbar ist?
Alles steht und fällt mit grundsätzlich guten Absprachen, einer hilfreichen Planung und Flexibilität im Ernstfall. Ich empfehle Paaren einmal im Jahr ein Wochenende zu zweit, bei dem sie sich fragen: Wie wollen wir leben? Was ist uns in der Partnerschaft und Erziehung der Kinder wichtig? Was sind Projekte des Einzelnen, für die er den Rücken frei braucht? Es geht um eine gemeinsame Vision, an denen sich dann die Prioritäten für das nächste Jahr orientieren.
Wöchentlich hilft eine Familienkonferenz (je nach Alter auch mit den Kindern), die Woche zu planen, Fahrten abzusprechen, Dienste im Haushalt aufzuteilen. Dabei geht es gerade zwischen den Eltern nicht nur darum, Aufgaben zu verteilen, sondern auch die Verantwortung.
Zusätzlich hilfreich ist ein tägliches Speed-Dating, um die Planung anzupassen. Und trotzdem kommt meist alles anders. Hier hilft eine Nothelfer-Liste mit Menschen, die auch kurzfristig einspringen können. Eltern können sich ein Notfall-Handy zulegen, dessen Nummer die Kinder, Kita und Schule bekommen. Der Telefondienst wechselt, sodass einer der Partner erreichbar ist, der andere sich auf seine Arbeit konzentrieren kann.
Und wenn alles dicke kommt: Auch hier gilt – erstmal einen Schritt zurücktreten, tief durchatmen, um wieder klar denken zu können. Dann den ersten Schritt tun, dem folgt der nächste usw. Ganz oft ist es notwendig, schlicht „Nein“ zu sagen – zu den unangekündigten Überstunden, zum Amt des Elternvertreters, zum selbstgebackenen Kuchen fürs Schulfest-Buffet. Das fällt uns häufig schwer, weil wir es allen recht machen wollen, weil uns an guten Beziehungen und Harmonie gelegen ist, weil wir uns vor dem Ärger fürchten, der dann folgt. Wenn wir aber „Ja“ sagen, obwohl wir „Nein“ sagen müssten, überfordern wir uns selbst und übergehen unsere Bedürfnisse und die unserer Familie. In diesen Fällen empfehle ich meinen Seminarteilnehmern das „positive Nein“. Ein „Nein“ ist nämlich ein verstecktes „Ja“: Ja zur eigenen Gesundheit und deshalb Nein zum kurzfristig eingeplanten Wochenenddienst, Ja zum harmonischen Heiligabend in der eigenen Familie und deshalb Nein zur Verwandtenfeier, Ja zu mehr Zeit mit den Kindern und deshalb Nein zu dem lukrativen Job mit vielen Dienstreisen.
Ist „simple present“ auch in der Partnerschaft hilfreich?
Auf jeden Fall. Wenn ich ganz bei mir bin, kann ich auch viel aufmerksamer beim Partner sein. Wenn ich gut für mich sorge, habe ich den Partner besser im Blick. Das gilt natürlich auch umgekehrt. Aber es kommt noch etwas hinzu: Beim „simple present“-Modell geht es neben der eigenen Mitte und dem Fokus auch um die Basis für eine gelingende Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Dazu gehören eine gute Kinderbetreuung, ein familienfreundlicher Arbeitgeber, ein Netzwerk – und die Familie als Team.
Meist ist die Mutter die Managerin der Familie. Sie hat alle Termine und Informationen rund um Kinder und Haushalt im Kopf. Sie trägt die Verantwortung, dass der Laden läuft. Sie ist für die Beziehungs- und Gefühlsarbeit wie Trösten, Schlichten, Vernetzen zuständig. Väter beteiligen sich heute viel mehr, sehen sich aber oft noch in der Rolle des „Helfers“ und „Unterstützers“, der weniger plant und organisiert, sondern mehr ausführt. Ich erlebe immer wieder, dass dieses Modell Partnerschaften belasten kann. Die Frau fühlt sich mit der Verantwortung alleingelassen, der Mann hat oft das Gefühl, mehr tun zu sollen oder die Dinge nicht richtig zu machen. Wenn beide berufstätig sind, braucht es eine echte Aufteilung der Verantwortung und der Aufgaben. Das ist ein langer Weg an Aushandlungsprozessen, weil es noch nicht unbedingt unserem Familienbild entspricht. Aber die Partnerschaft profitiert enorm, wenn es gelingt. Das kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen.
Wie können wir uns den Alltag bei Familie Richter vorstellen? Läuft bei Ihnen alles nach der „simple present“-Methode oder kommen auch Sie ab und an ins Schleudern?
Ich habe auf dem Katholikentag in Leipzig einen „simple present“-Workshop gegeben und meine ganze Familie war im Raum. Genau diese Frage wurde meinen Kindern gestellt. Und meine damals 16-jährige Tochter antwortete: „Och, Mama ist ganz normal. Sie ist auch manchmal ganz schön gestresst. Ist ja auch kein Wunder. Aber ich finde, wir kriegen immer wieder gut die Kurve.“ Das bringt es gut auf den Punkt. Wir sind eine ganz normale Familie – manchmal mit gestressten Eltern und nörgelnden Kindern. Das Entscheidende ist zu erkennen, was gerade schiefläuft, auf sich selbst zu achten, den anderen wieder in den Blick zu nehmen und immer zu wissen, wo die Friedenspfeife hängt.